| Heute ist es genau ein Jahr her, dass mein Vater plötzlich verstorben ist. Er hatte an diesem Tag noch die Tauben vom ersten Vorflug heimkommen sehen. Die Zeit ist für mich seitdem unglaublich schnell vergangen und Papa fehlt mir insbesondere als Gesprächspartner zum Thema Brieftauben jeden Tag. Wir waren mehr als 40 Jahre im Brieftaubensport ein Team. Die Aufgabenteilung verschob sich in all den Jahren je nach privater Situation immer mal wieder hin und her zwischen uns beiden, aber letztlich wurde alles rund um die Tauben besprochen und miteinander abgestimmt. Mein Vater hatte bzgl der Tauben eine enorme Beobachtungsgabe. Ihm fielen oft Dinge auf, die mir nicht oder erst deutlich später aufgefallen wären. Bei einzelnen Tauben, im Schlag oder rund um den Schlag. Er setzte sich eine halbe Stunde oder auch eine ganze zwischen die Tiere und irgendwann später sagte er dann: "Dieser Vogel, der macht aber das und jenes....da müssten wir mal schauen wie wir damit umgehen." Ich fand das immer sehr faszinierend.
Gestern abend erfuhr ich, dass eine Dortmunder Reisevereinigung heute schon wieder einen Vorflug über 60 Kilometer durchführt, nachdem man am Samstag erst auf 130 Kilometer war. Papa war nicht zimperlich mit den Tauben. Es war für ihn keine Frage dass Brieftauben viele Flüge in kurzer Zeit problemlos schaffen können. Aber er hätte dieses ständige Einkorben und schicken, wie es seit einigen Jahren von einigen Vereinigungen praktiziert wird, aus einem anderen Grunde für komplett "bekloppt" erklärt - übrigens genauso wie mein verstorbener Opa und mein auch im letzten Jahr verstorbener Großonkel es getan hätten: für sie alle war Brieftaubensport ein Hobby, eine Freizeitbeschäftigung. In der Woche wurden die Tauben versorgt und am Haus trainiert wie es die Zeit zuließ und am Wochenende war dann der Flug als Höhepunkt der Woche, auf den man sich freute. Auch wegen der Gemeinsamkeit unter Brieftaubenzüchtern am Wochenende beim Einsetzen und früher auch beim Uhren auslesen. Dann wurde gefachsimpelt und gegessen und getrunken.
Heute hat sich das alles doch gewandelt. Da gehen vielerorts die Tauben jetzt auf den Vorflügen alle zwei, drei Tage in den Kabi, da werden zwischen den ersten Preisflügen noch dienstags oder mittwochs Zwischenflüge veranstaltet und da verkommen Tauben zu Flugmaschinen. Rein in den Trainingskorb oder den Kabi, nach Hause fliegen, am nächsten oder übernächsten Tag wieder und wieder und wieder. Mit einem Hobby hat das alles rein gar nichts mehr zu tun. Viele Züchter sind so erfolgsbesessen und vom Ehrgeiz zerfressen, dass sie überhaupt nicht mehr merken wie krank das alles ist, was sie da machen.
Mein Vater war, wie ich auch, immer bestrebt mit Brieftauben erfolgreich zu reisen. Tauben mussten hier immer schon auch etwas leisten. Aber um den Preis dass sie wegen zwei oder drei Preisen mehr jeden Tag trainiert und jeden zweiten Tag in den Kabi gesetzt werden, hätten wir hier niemals Brieftaubensport betrieben.
Papa freute sich in den letzten Jahren auch immer noch über gute Flugergergebnisse und er beobachtete die Tauben v.a. gerne am Haus beim Freiflug etc. Aber für ihn war Brieftaubensport immer nur ein Hobby unter Gleichgesinnten. Dass er die Tauben quasi halbberuflich ständig trainiert oder auf die Reise geschickt hätte, wäre ihm im Traum nicht eingefallen. Er wollte Brieftauben auch immer Brieftauben sein und nicht zu Robotern verkommen lassen. Für ihn war das Verhalten des Tieres und der Bezug zur einzelnen Taube wichtig. Um die 40 Reisetauben, wie wir sie in den letzten Jahren hatte, waren ihm fast schon zu viel. Ich erinnere mich immer an zwei seiner Sprüche. Der erste war: "Wenn bei 40 oder 50 Tauben nicht ein oder zwei Gute sind, dann sind bei 80 oder 100 Tauben auch keine Guten dabei." Der andere Spruch, bezogen auf den Züchter war immer: "Wer 100 Tauben reisen muss um gut zu fliegen, der kann es nicht."
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