| | Ich hatte zuletzt schon ein wenig darauf gewartet: es vergeht im deutschen Brieftaubensport kein Herbst und kein Winter, in dem nicht zu irgendeinem Zeitpunkt in einem Internetforum, einer Facebook-Gruppe, in einer Zeitschrift oder in anderen sozialen Medien über die sogenannte Augentheorie diskutiert wird. Man sollte meinen dass zu diesem Thema über die Jahre und Jahrzehnte inzwischen alles gesagt ist und sich jeder Sportfreund eine Meinung gebildet hat. Aber die Diskussionen Für und Wider die Augentheorie flammen mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder auf.
Aktuell haben die Sportfreunde Robert Maas und Simon Ullrich in ihrem Podcast "Konstatiert" (man kann diesen Podcast u.a. bei Youtube ansehen) den bekannten und erfolgreichen Sportfreund Rene Becker befragt. Das hat den interessanten Aspekt, dass sich Rene nicht nur als erfahrener und erfolgreicher Taubenzüchter- und -spieler dazu äußern kann, sondern auch seine Erfahrungen und sein Wissen als Brieftaubentierarzt teilen kann. Insofern ist dieser Podcast aus meiner Sicht wirklich sehr gelungen und interessant und ich kann jedem empfehlen sich das Video einmal anzusehen.
Inhaltlich berichtet Rene Becker dort u.a. dass er bei der Auswahl seiner (Zucht-)Tauben sehr wohl auf bestimmte Eigenschaften des Auges achtet, ohne sich als Spezialist für die vielen Details der Augentheorien zu sehen. Besonderen Wert legt er wohl auf eine gute Pigmentierung des Taubenauges. Interessant waren für mich seine Erklärungen zur Pigmentierung der Taube insgesamt, die man nicht isoliert betrachten sollte. Die Pigmente verteilen sich bei jeder Taube unterschiedlich im Körper. In den Augen oder in den Federn und dann an verschiedenen Stellen. Es würde an dieser Stelle zu weit führen auseinanderzulegen, dass es auch noch verschiedene Pigmentfarben mit unterschiedlichen Funktionen gibt. Aber eines kann man sicherlich sagen: eine starke Pigmentierung des Auges oder des Gefieders ist kein Nachteil für eine Taube. Es kann, so wie Rene Becker es auch erklärt, ein Hinweis auf eine gute Durchblutung der Organe und entsprechend auf eine hohe Vitalität der Taube sein.
Über die Vitalität hatte ich hier vor längerer Zeit einmal geschrieben. Für mich ist es eigentlich der entscheidende Faktor bei der Auswahl einer Zuchttaube nach ihrer Abstammung. D.h. wenn ich eine Zuchttaube aus einem fremden Bestand hier einführe, dann sollte sie selbstverständlich erstklassige direkte Vorfahren haben. Und dann sollte sie, und deswegen nehme ich Tauben vor dem Kauf oder Tausch immer erst in die Hand - insbesondere wenn ich die "Taubenlinie" und ihren Züchter nicht gut kenne - und bilde mir ein Urteil darüber wie die Taube in der Hand wirkt, ob sie körperlich keine größeren Defizite hat und eben ob sie auf mich vital wirkt. Wie fühlt sich die Muskulatur an? Wie fühlt sich das Gefieder an? Wie wirkt die Taube in der Hand? Ist sie lebhaft oder liegt die in den Händen wie ein "nasser Sack"? Das ist für mich wichtig bei der Beurteilung einer Taube.
Bezogen auf das Taubenauge bedeutet das auch, dass diese Vitalität in ihrem Auge sichtbar sein sollte. Auch das Auge sollte lebhaft sein mit einer beweglichen Pupille, die sich schnell verändern kann je nach Lichteinfall und die nicht zu groß ist und eben gerne auch durch eine gute Pigmentierung.
Trotzdem denke ich, dass es niemanden auf der Welt gibt, der bei einer Jungtaube, welche gerade die Pigmente im Auge und in den Federn erst ausgebildet hat, am Ende sagen kann ob es eine gute oder eine schlechte Reise- oder Zuchttaube wird. Es gibt einige Sportfreunde und Experten, welche es immer wieder schaffen aus einer größeren Anzahl Tauben anhand der Beurteilung von Körper und/oder Auge die besten (Zucht-)tauben herauszusuchen. solche Fähigkeiten bewundere ich sehr. Es hat aber auch ein wenig damit zu tun, dass man durchaus sehen und fühlen kann welche Qualitäten ältere Tauben haben. Die Strukturen in den Augen verändern sich bei jeder Taube mit dem Alter. Sie werden intensiver, die Rillen und Krater in den Augen werden mehr oder größer. Danach kann man das Alter einer Taube oft ableiten. Und seien wir ehrlich: die wenigsten Tauben werden im Brieftaubensport besonders alt, weil sie dem Züchter einfach gefallen. Nein, sie werden alt, weil sie Leistungstiere in Zucht oder Reise waren. Und so kann man anhand bestimmter Merkmale schon manchmal sehen ob eine Taube eine gute Taube ist. Allerdings habe ich noch niemanden kennengelernt, der das mit Bestimmtheit bei einer Jungtaube sagen kann.
Auch hier gibt es aber Sportfreunde, die vielleicht etwas mehr Gefühl für die Tauben haben als andere. Im Sommer 2011 war ich bei meinem Freund Dirk de Beer zu Besuch. Dirk wohnte damals noch direkt in Greetsiel. Ich war noch nicht ganz auf den Hof gefahren, da sagte Dirk zu mir. "Ich hole mal eine junge Taube, die will ich dir zeigen. Die wollte Wolfgang Roeper gestern sofort mitnehmen. Er hatte sie schon im Korb, aber ich habe sie ihm nicht gegeben." Also holte Dirk eine sehr junge Taube mit der Ringnummer 755. Es war ein sehr schönes Jungtier bester Abstammung: aus seinem berühmten 346 mit einer Tochter des Kannibaal von Dirk van Dyck. Wegen der Abstammung hätte sie wahrscheinlich jeder Züchter gleich gerne mitgenommen, aber die Taube war auch wirklich perfekt in der Hand (soweit man das bei einer so jungen Taube beurteilen kann).
Dirk behielt also diese Taube und sie wurde ein hervorragendes Zuchtweibchen aus der er u.a. seine 615 zog, die von der Leistung her seiner Olympiatäubin 147 kaum nachstand. Ich habe oft darüber nachgedacht ob Wolfgang Roeper diese Veranlagung der 755 als sehr gutes Zuchtweibchen irgendwie gesehen oder gespürt hatte.
Auf der anderen Seite fällt mir aus dem Schlag von Dirk aber auch ein weiteres Beispiel ein: es muss im Winter 2010/2011 gewesen sein, als ich auch bei Dirk zu Gast war. 2010 hatte Dirks 147 überragend geflogen und sie wurde Olympiataube. Dirk zeigte mit die Eltern der Täubin. Die Mutter 458 stammte aus dem Gus x Dirks Stammtäubin NL-105. Besser geht es gar nicht. Aber diese 458 war jetzt keine überaus auffällige Taube. Ein schönes, normal gutes Weibchen in der Hand und auch in der Beurteilung des Auges, aber keine Taube von der man sagen würde, dass sie eine absolute "Kanone" war in der Hand. Züchterisch stellte sie sich letztlich als absolute Spitzenklasse heraus.
Der Vater der Olympiatäubin war der 766. Er stammte aus einer originalen Heremans-Täubin und einem Vogel, der sehr eng auf den bekannten "Jef" gezogen war. Dieser 766 hatte auch gut geflogen. Aber was mir an dieser Taube immer im Gedächtnis geblieben ist war sein Auge: es hatte kaum Farbe und kaum Pigmentierung. Es war wirklich blass und ich denke jeder Augentheoretiker hätte es verworfen. Dirk hatte also einen Vogel mit so schwachem Auge mit einer Täubin mit eher durchschnittlichem Auge (nach meiner Einschätzung) verpaart und aus diesem Paar nicht nur eine Olympiataube, sondern sehr viele herausragende Zucht- und Reisetauben gezüchtet.
Ich fürchte dieses hervorragende Zuchtpaar wäre bei einer Zusammenstellung der Tauben durch einen Augentheoretiker niemals zusammen gesetzt worden.
Wir wissen wohl alle viel zu wenig davon was wirklich eine gute Taube ausmacht, wie man gute Paare zusammenstellt oder wie man herausragende Reise- und Zuchttauben züchtet. Wir können uns einzelner Hinweise bedienen und vielleicht bringt uns das ein wenig weiter. Aber am Ende, so ehrlich sollten wir sein, wissen wir gar nichts. | | | |
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